Treu und Redlichkeit – nach Möglichkeit
Treue ist eine Tugend. Wer das große Wort scheut, der sagt besser „Verlässlichkeit.“ Der Kaufmann kennt „Treu und Glauben“ – und zumindest unter Kaufleuten werden Geschäfte heute immer noch auf diese Weise abgewickelt – verlässlich, im gegenseitigen Glauben an die Redlichkeit des anderen.
Der wenig gebildete Bürger, der Kleinstadtbewohner oder der Single mit viel Illusionen denkt bei dem Wort „Treue“ vor allem an „eheliche Treue“. Dieser völlig entkernte und leicht abwegige Begriff bezeichnet die „Ausschließlichkeit der Geschlechtsgemeinschaft der Ehegatten“.
Nun ist die Ehe in allererster Linie eine Wirtschaftsgemeinschaft – als solche ist sie entstanden, und so wird sie auch bis heute behandelt. Zum Zweiten ist sie eine soziale Gemeinschaft, in der man füreinander einsteht. Auch das ist bis heute so. Mag sein, dass sie für viele Bürger auch eine Wertegemeinschaft ist – das wird man kaum beklagen wollen.
Das Exklusivrecht an der Nutzung von Penis und Vagina des jeweils anderen hingegen ist nicht einmal bei Mose verankert. Das Ziel dieser Vorstellung war zunächst, den gemeinsamen, ehelichen Nachwuchs zu begünstigen. Soweit es Männer betraf, war es relativ einfach, die Trennlinie festzulegen: Kinder, die von „Frauen zur Linken“, Mägden oder Sklavinnen geboren wurden, wurden vom Erbe ausgeschlossen. Ein dem Mann untergeschobener Bankert war schwerer zu erkennen, und mancher unehelich gezeugte Sohn konnte sich auf diese Weise ein Erbe sichern.
Eheliche Treue im Sinne von „exklusiver Geschlechtsgemeinschaft“ ist eher eine romantische Vorstellung. Selbst der Freiherr von Knigge, Schöpfer des berühmten Anstandsbuches, sagte den Frauen:
Die Frau poche nicht auf ihre unverletzte Treue, welche vielleicht das Verdienst des Zufalls oder eines kalten Temperaments ist.
Oscar Wilde gar bringt es auf den Punkt, was Treue möglicherweise ist:
Wer treu ist, kennt nur die triviale Seite der Liebe. Nur die Treulosen kennen ihre Tragödien.
Bei der Treue stehen wir also stets zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Eine Ehefrau mag selbst ein halbes Dutzend Lover „nebenbei“ gehabt haben – sie wird dennoch rasend eifersüchtig werden, wen sie nur von einem einzigen Seitensprung ihres Mannes erfährt. Männer hingegen lassen Frauen oft sogar den einen oder anderen Lover durchgehen, von dem sie wissen – aber meist ahnen Männer nicht einmal etwas.
Ich plädiere für die Treue, und das heißt für mich, die Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Geschlechtsgemeinschaft nicht willkürlich aufs Spiel zu setzen. Ich wundere mich allerdings, dass der Geschlechts-Exklusivität die höchste Bedeutung beigemessen wird. Eine riskante Spekulation oder eine Neigung zum Glücksspiel gefährdet die Grundlagen der Ehe bei Weitem mehr als ein Seitensprung.
Wenn heute behauptet wird, die Jugend würde wieder mehr auf Treue setzen, dann ist das zunächst positiv. Aber vergessen wir nicht, dass die Illusionen mit den Jahren abnehmen. Treue ist nichts als ein tugendhaftes Versprechen, keine nachvollziehbare Realität – schon gar nicht für die alle Zukunft.