Auf Augenhöhe? Glauben Sie doch den Unsinn nicht!
Wenn ich, was sehr selten vorkommt, noch einmal in meine Jugend eintauche, wird mir immer wieder bewusst, wie glücklich ich sein konnte, zu einer weitgehend selbstbewussten Persönlichkeit mit vielen Facetten heranzureifen. Damals, so scheint mir, war dies wenigen Menschen vergönnt. Man konnte entweder starr ins System der Gesellschaft hineinwachsen oder sich weit absondern, wenn man sich mit ihr nicht identifizierte. Beide Wege konnten zu Glück und Erfolg oder zu Unglück und Misserfolg.
Für mich gab es – intellektuell wie emotionale – wenig Möglichkeiten, mich mit irgendjemandem zu identifizieren, weder mit einer Gesellschaftsschicht noch mit einer Weltanschauung. Das half mir, mich zu einem selbstbewussten Individuum zu entwickeln.
Hat Deutschland das unübersichtlichste Klassensystem der Welt?
Dieser Tage las ich in der „Süddeutschen“, Deutschland habe eines der undurchsichtigsten Klassensysteme der Welt, und meine Heimatstadt hatte mit Sicherheit ein Klassensystem, das relativ undurchdringlich war. Das Interessante war damals: Meine Stadt brauchte „Aufsteiger“, aber die privilegierten Stadtbürger hassten jeden, der an der konservativen Klassengesellschaft meiner Heimatstadt kratzte. Kein Wunder, dass ich mein Glück im „fernen Ausland“ suchte.
Augenhöhe – das Beziehungshindernis
Normalerweise schreib ich nicht über mich. Doch in diesem Fall möchte ich Ihnen etwas sagen, was Sie betreffen könnte: Wenn Sie einen Partner suchen, vergessen Sie die (zumeist unsichtbaren) Klassenschranken, regionalen Eigenarten, und ebenso das vorgebliche Bildungs- und Einkommensgefälle. Nur starrsinnige Anpasser, arrogante Klassenbewusste und mutlos gewordene Selbstzweifler bestehen darauf, die perfekte Partnerschaft auf einer angeblichen „Augenhöhe“ zu finden.
Gegenwärtig reden sich viel zu viele Partnersuchende ein, sie lägen „weit über dem Durchschnitt“. Das ist nicht nur Selbstüberschätzung, sondern auch logischer Unfug: Die meisten Menschen liegen „im Durchschnitt“, und einige eben weit darunter. Nur wenige heben sich aus dem Durchschnitt so weit heraus, dass wir sie als „herausragende Persönlichkeiten“ wahrnehmen.
Sie Sie deshalb „nur Durchschnitt“? Nein, natürlich nicht. Wir alle haben Eigenschaften oder Möglichkeiten, die uns auszeichnen. Sehen Sie, und darauf kommt es an: Wenn Sie wissen, welche Eigenschaften an Ihnen geliebt werden – sie es von Ihnen selbst oder von anderen – dann haben Sie den ersten Schritt zu einer sinnreichen Partnersuche vollzogen. Denn wahrscheinlich sucht ein anderer Mensch durchaus genau diese Eigenschaft – und Sie machen ihn damit glücklich.
Auf Augenhöhe – warum eigentlich?
Auf „Augenhöhe“ – lassen Sie sich bitte nicht von dieser Form von Neusprech vergiften. „Auf Augenhöhe“ verkehren in der Geschäftswelt nur Menschen, die sich aufgrund ihrer Verhandlungsposition als gleichwertig einschätzen. Das ist oft nötig, um Entscheidungen sofort fällen zu können. Beziehungen sind aber – auch wenn gerne Gegenteiliges behauptet wird -nur einer Entwicklung vorstellbar, die mit „Augenhöhe“ gar nichts zu tun hat.
Augenhöhe als Hohlbegriff – lästig wie Hundekot
Wer behauptet, Beziehungen seien „nur auf Augenhöhe“ möglich, der sollte bitte sein Gehirn aufräumen: Wo ist denn bittet, die Augenhöhe bei Emotionen, beim sozialen Miteinander, bei der Gründung einer Familie? Wer diese Fragen beantworten kann, der erwirbt vielleicht ein Recht, von „Augenhöhe“ zu sprechen – beim Rest handelt es sich schlicht und einfach um dummes Geschwätz.
Ich kann nur wiederholen, was ich ständig predige: Glauben Sie nur das, was Sie selber erlebt und erfühlt haben, und lassen sie den Wortunrat, der wie Hundekot auf der Straße liegt, am besten unbeachtet.
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