Dating-Branche: Protagonisten konservativer Wertvorstellungen?
Ein Teil der Dating-Branche steht unter Ideologieverdacht – jedenfalls, was die „Wertvorstellungen“ angeht, die nach außen vertreten werden. Dazu nutzt man eine Mischung aus bürgerlichen Verhaltensweisen des 19. Jahrhunderts, 50er-Jahre-Mief und angeblichen „allzeit gültigen“ Verhaltensweisen („Gentlemen“, „gutes Benehmen“, „sich zu benehmen wissen“, „höfliches Benehmen“) .
Gerade hörte ich von einem schottischen Unternehmen, dass man sich mindestens nach außen nun ganz zugeknöpft geben will. War es gestern noch der Hit, mit lüsternen jungen Frauen Werbung zu machen, so zieht man sich nun ganz hinter den Gartenzaun zurück und bezeichnet Casual Dating als eine Art Geschäft, die am unteren Ende von Online-Dating angesiedelt ist.
In ähnliche Richtung gehen Befragungen, in denen auf konservative, bürgerlich geprägte Wertvorstellungen verwiesen wird, wie beispielsweise „Gentleman“, „Höflichkeit“, „Knigge“ und ähnlich. Alles muss noch eine Spur seriöser als seriös wirken – die Fahne des 19. Jahrhunderts wird hochgehalten: Doch sollten wir ihr folgen wie die Lemminge?
Schauen wir mal auf die Fakten: Wir leben im 21. Jahrhundert. Jedes Paar, das irgendwo zusammenkommt, versucht, den „Knigge“ so schnell wie möglich zu überwinden. Man will schließlich keine Nichtigkeiten austauschen, sondern wissen, wer man ist und ob man zueinanderpasst. Dazu ist gegenseitiger Respekt nötig – aber kein Knigge.
Frauen sind nicht so selbstbewusst, wie sie scheinen
Richtig ist zweifellos, dass viele Frauen immer noch weder selbstbewusst noch selbstbestimmt sind, sondern sich von falschen Leitbildern führen lassen. Das sind dann die edelmütigen Prinzen, sinnlichen Verführer oder betont höflichen Gentlemen – Gestalten aus Grimms Märchen und der modernen Kitschliteratur für Frauen. Sie lassen sich kurzfristig vielleicht noch von einem „höfischen“ Verhalten beeindrucken. Dagegen spricht nicht, dass sich auch manche selbstbewusste Frau umschmeicheln lässt – nur weiß sie, dass es eines der „Spiele der Erwachsenen“ ist, und kein erwünschtes soziales Verhalten.
Männer sollen „Gentlemen“ sein – und Frauen können sein, wie sie wollen?
Wenn von Gentleman, Knigge, bürgerlichen Tugenden und dergleichen die Rede ist, sollte man auf ein Phänomen hinweisen: Niemand redet über vergleichbare Verhaltensweisen für Frauen.
Von einer englischen Lady erwartet man gelegentlich auch heute noch ganz bestimmte Verhaltensweisen, zum Beispiel, sich nicht zu aufdringlich zu kleiden, jederzeit eine Konversation auf beliebigem Niveau führen zu können, Streit zu schlichten und niemals die Contenance zu verlieren. Von einer Dame in Deutschland darf man hingegen kaum irgendetwas erwarten, während sie selbst hohe Erwartungen hat – das passt ganz und gar nicht.
Damenhaftes Verhalten wird abgewertet – „gentlemenlike“ wird verherrlicht
Das „damenhafte Verhalten“ wird von den meisten Männern nicht einmal vermisst – und von Frauen übrigens auch nicht. Man kann vielmehr feststellen, dass gerade „damenhaftes Verhalten“ als Rückschritt in der Emanzipation angesehen wird:
(Frauen …) denen man damenhaftes Verhalten antrainiert hat, (werden) tatsächlich genauso unsicher und unselbstständig … wie sie wirken sollen.
Wenn das so ist, dann befinden wir uns in einem Kulturkonflikt: Wir können nicht einerseits von Männern behaupten, sie würden „gewinnen“ wenn sie „Gentlemen“ sein würden und andererseits von Frauen behaupten, sie verlören etwas, wenn sie „damenhaft“ reagierten.
Ist die Dating-Branche in Wahrheit rückwärtsgewandt?
Man könnte zu der Überzeugung kommen, dass vor allem im Bereich der Dating-Branche ein konservatives, ja geradezu rückwärtsgerichtetes Verhalten propagiert würde – ein Verhalten, das zudem keinen realistischen Hintergrund hat, sondern vor allem Träume bedient.
Neu ist dies alles allerdings nicht. Die Märchenfiguren des reichen Herrn, des Gentlemen oder einsamen Millionärs durchziehen ja nicht nur die Kitschliteratur des späten 19. Jahrhunderts, sondern sie kamen auch in Zeitungsannoncen zur Geltung, die von Heiratsvermittlerin aufgegeben wurden. Auch damals waren solche Ideen bereits schiere Illusionen.
Doch damals passte das Wunschdenken wenigstes noch in eine Zeit, in der die Bürgertöchter in Liebesillusionen schwelgten, weil sie keine wirkliche Wahl hatten. Heute hingegen ist sie eine billige Masche – und das gilt auch dann, wann sie angeblich von Volksbefragungen gestützt wird.
Hinweis: Gemälde von 1858 (Ausschnitt).