Sie sind ein Masochist, mein Herr
Nur sehr mutige Menschen in der Geisteswelt können sich leisten, komplizierte Dinge zu vereinfachen. Die meisten verkomplizieren an sich einfache Dinge und tragen damit durchaus zu ihrem Ruhm bei.
Ausnahmsweise erzähle ich Ihnen dazu eine Geschichte:
„Ich halte dich für einen Masochisten“, sagte Jenny eines Tages zu ihrem Freund Kevin, „und ich empfinde es als unbedingt nötig, dass du dies einmal testen lässt, bevor wir heiraten, denn ich will keinen Mann, der sich erniedrigen und demütigen lässt.“
Harte Worte für Kevin, der in der Tat ein wenig zu viel kuschte, vor allem vor übermächtigen Frauen. Schon oft hatten ihm Kollegen gesagt, dass er vor der neuen, äußerst attraktiven Chefin zu sehr „auf die Knie“ gehen würde. Er selbst betrachtete einen Test daher durchaus als sinnvoll.
Auf Psychotherapeuten muss man in der Regel lange warten – doch da war gottlob ein junger Verhaltenstherapeut, den Jenny aus ihrer Schulzeit kannte, und mit ihm war schnell ein Termin vereinbar. „Ich brauche nicht lange“, hatte er am Telefon gesagt, „nur einen Fragebogen mit 48 Fragen und ein kleines Interview danach „– das würde reichen.
Kevin nahm den Termin wahr und füllte den Fragebogen aus – sehr gewissenhaft und stets nach einer kurzen inneren Rückschau. Es waren sehr allgemeine Fragen dabei, wie beispielsweise: „Welche Getränke bevorzugen Sie?“ Doch gelegentlich auch solche, die ihn sehr berührten: „Der Urologe führt eine Prostatauntersuchung durch. Was fühlen Sie?“ Oder „Auf einer Party lernen sie eine Frau kennen, die sie fragt, ob Sie das Besondere lieben. Was antworten Sie?“ Bei diesen Fragen überlegte Kevin besonders ausführlich, was er antworten sollte und warum sie wohl gestellt würden, denn er fürchtete, dass sie ihn entlarven könnten. Dennoch beantwortete er sie alle sehr gewissenhaft und so ehrlich wie möglich.
Nach etwa einer Stunde ging er mit dem ausgefüllten Fragebogen zur Rezeption, uns sagte der dort sitzenden jungen Frau, er habe den Bogen nun ausgefüllt, und er wolle fragen, wann er über die Ergebnisse verfügen könne. Die junge Dame lächelt ihn etwas spöttisch an, bevor sie sagte: „Sie können das Ergebnis jetzt gleich haben – der Doktor kann es sofort auswerten.“
Der Therapeut bat Kevin, Platz zu nehmen, und begann das Interview:
„Haben Sie alle Fragen vollständig ausgefüllt?“ Fragte er zuerst. Kevin sagte „ja selbstverständlich“. „Und haben sie die Fragen eine nach der anderen ausgefüllt, oder sind Sie zwischen den Fragen auf- und abgesprungen?“ Kevin sagte wieder wahrheitsgemäß: Ja, alle nacheinander“, und er fühlte sich gut dabei. Mh …, sagte der Therapeut nun etwas langsamer und sah seinen Klienten dabei durchdringend an: „Hatten sie während des Ausfüllens jemals Zweifel, ob diese Fragen berechtigt und sinnvoll waren?“ Kevin schaute den Therapeuten einen Moment verwirrt an, dann antworte mit leicht vibrierender Stimme: „Nein, niemals, wirklich nicht“. Der Therapeut sah ihn nun noch einmal intensiv an und stellte die letzte Frage: „Und … haben sie die Wahrheit gesagt oder vielleicht ein wenig geflunkert?“ Kevin wirkte nun etwas aufgebracht: „Die Wahrheit, selbstverständlich“, sagte er hastig.
Der Therapeut sah in lange an, bevor er sagte: „Sie sind ein schlimmer Fall von Masochismus, mein Lieber – tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen.“
Kevin schnappte nun nach Luft und sagte mit hochrotem Gesicht: „Aber Sie können den Fragebogen doch unmöglich ausgewertet haben!“
Der Therapeut lächelte, zerriss den Fragebogen und antwortete: „Die Fragen spielen überhaupt keine Rolle, mein Freund. Aber wer sie so sklavisch ausfüllt wie Sie, und noch dazu so schrecklich ehrlich dabei sein will, der kann nur ein Masochist sein.“
Fragen Sie sich nun, warum ich Ihnen diese Geschichte erzähle? Sehen Sie – das verrate ich Ihnen nicht. Denken Sie einfach einmal darüber nach, wenn Sie wieder einmal einen Test ausfüllen.