Passen wir zusammen?
Keine Frage wird von Liebenden häufiger gestellt als diese: „Passen wir eigentlich wirklich zusammen“? In vielen Kulturen werden dazu Orakel befragt – von der Astrologie über die Kartenschlägerei bis hin zum Auspendeln. Auch in Deutschland durchsuchen vor allem Frauen heimlich die Orakelbücher der Astrologie, um nachzusehen, ob sich beispielsweise Widder und Jungfrau paaren sollten.
Die Forschung sieht es nüchterner. „Es gibt keine verbindlichen Kriterien, bestenfalls grobe statistische Werte“ antworten jene, die es ernst meinen mit der Wissenschaft. Sie sagen uns dann, dass die Möglichkeit, zu scheitern, von der Qualität der Ehe der Eltern abhing und von den eigenen Ehen, die bereits geschieden wurden. Kriterien über Charaktereigenschaften sind nicht bekannt, jedenfalls nicht, soweit die seriöse Forschung betroffen ist. (1)
Charakter- und Persönlichkeitsmerkmale – ein schwaches Bild
Schalten wir eine Stufe herunter, so finden wir ein neues Stichwort: Die Persönlichkeitsmerkmale, früher auch Charaktereigenschaften genannt. Psychologen glauben, sie mithilfe von Fragebögen sicher herausfinden zu können. So sicher, dass sie behaupten, ihre Verfahren seinen zutreffender als die eingehende Selbstanalyse oder die Beobachtung durch andere. Mich erstaunt nicht, dass sie den Beweis dafür schuldig bleiben – aber das soll jetzt nicht diskutiert werden, sondern etwas anderes: Welche Bedeutung hat denn, für sich genommen, der Charakter? Ist er nicht nur ein Baustein des Menschseins, der eine Gruppe von Eigenschaften beschreibt? Ich persönlich erinnere mich noch gut an Zeiten, in denen der Charakter im Allgemeinwissen gar nicht näher definiert war: Man sagte nur, er sei stabil oder labil, und der stabile Charakter wurde im Volksmund dann zum “guten Charakter“.
Das menschliche Potenzial -wichtiger als Psycho-Eigenschaften
Wer sich fragt, ob er mit seinem Partner harmoniert, ist auf etwas ganz anders angewiesen: auf das menschliche Potenzial. Der Charakter ist lediglich eine Schicht des Menschseins, und auch, wenn man heute „Persönlichkeit“ statt „Charakter“ sagt, wird die Sache dadurch nicht transparenter. Denn zum Menschsein gehören Herkunft, Anlagen, Neigungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten – und möglicherweise weitere marginale, aber leuchtende Eigenschaften wie beispielsweise erfrischender Charme oder ein gewinnendes Lächeln. Nimmt man nun alles zusammen, so kommt man auf einen sehr entscheidenden Faktor: Kein Potenzial, keine Anlage, keine Fähigkeit und keine Fertigkeit speilt eine Rolle, wenn sie keine praktischen Auswirkungen hat.
Praktisches Handeln steht vor psychischen Eigenschaften
Das Volk ging schon immer davon aus, dass Eigenschaften lediglich anhand ihrer praktischen Auswirkung erkennbar sind. Großzügigkeit beispielsweise zeigt sich lediglich im Alltag, und ebenso ist es mit dem Nachtragen oder Verzeihen. Für das Gelingen der wirtschaftlichen Stabilität der meisten Ehen sind gegenseitige wirtschaftliche und emotionale Stützungen notwendig – etwas, das immer weniger Beachtung findet.
Ansprüche:Gift für die Ehe
Dies sind lediglich wenige Beispiele. Das Leben in der Ehe kann nicht sinnvoll gestaltet werden, wenn beide darauf beharren, möglichst viele Ansprüche, Freiheiten und andere derartige Faktoren durchzusetzen. Selbst, wenn es bitter klingt: Nur, wenn mal der eine, mal der andere Partner die eigenen Interessen zurücknimmt, wenn man also Kompromisse findet, kann eine Ehe gelingen.
Die gute Ehe beruht nicht auf Charaktereigenschaften
Relativ häufig wird uns in der Öffentlichkeit ein falsches Bild von der Realität vermittelt: In der Ehe treffen nicht etwa zwei Menschen mit gewissen Eigenschaften zusammen, bei denen sich dann nichts mehr ändert, sondern sie verändern sich durch die Begegnung. Mit anderen Worten: Aus dem „Du“ und „Ich“ entsteht ein „WIR“, das wieder auf die Einzelpersonen zurückwirkt – deutlich erkennbar an alten Ehepaaren. Auch die Stabilität der Ehe wird oft verkannt: Sie gleicht nicht einer Kugel, die am Boden einer Schüssel liegt und sich dort nicht mehr bewegt, sondern eher einer Kugel, die bis unter den Rand ihre Kreise zieht und auch mal gefährlich in die Nähe des äußeren Randes kommt. Es liegt an den Partner, die Stabilität zu halten, und zwar nicht nur in Krisen, sondern tagtäglich.
Die Ehe und das Gleichgewicht
Zurück zur Frage: „Passen wir zusammen?“ Sie sehen – diese Frage ist statisch gestellt. Ob Sie jetzt zusammenpassen, werden Sie selbst wissen. Ob Sie in Zukunft zusammenpassen, liegt an ihrer Kunst, die zuvor genannte Kugel immer wieder ins Gleichgewicht zu bringen, also in meinem Bild in die „Kreisbahnen in der Schüssel“. Wenn Ihnen das zu theoretisch ist: Sorgen sie einfach bei jeder unvermeidlichen egoistischen Handlung dafür, dass ihrem Partner auch ein Stück Lebensfreude zuwächst. Bedenken Sie, ob das, was Sie tun, ihnen beiden nützt, und lösen Sie Unstimmigkeiten möglichst bald auf. In Wahrheit gibt es keine sichere Prognose über die Übereinstimmung – der Erfolg Ihrer Ehe liegt daran, welches Interesse sie daran haben, das Leben mit einem anderen Menschen dauerhaft zu teilen. Wenn es schief geht, weil sich die Lebenswege doch auseinanderentwickeln, dann können Sie daran wenig tun. Doch die ist sehr selten der Fall – und aus dieser Sicht lohnt es sich, täglich sein Bestes zu geben, um die Beziehung in einem beschwingten Gleichgewicht zu halten.
(1) Beispiele nach Arnold Retzer „Lob der Vernunftehe“.