Gesichter lügen nicht, es sei denn, sie lügen
Menschen sollten nicht völlig offen und ehrlich sein. Wie wir gehört haben, begünstigt die Evolution nicht diejenigen, denen man jedes Gefühl von den Backenknochen ablesen kann, sondern jene, die sie nötigenfalls auch ein wenig verstellen können. Klar, dass diese Tatsache manche Menschen auf die Palme bringt. Einmal die Ehrlichkeitsfanatiker, die am liebsten ein Röntgengerät für den Charakter hätten, und dann die Psychobranche, die von immer neuen Methoden berichtet, um den Charakter einen Menschen zu erkennen und schließlich die Leute, die in alten Mythen graben, um Hellsicht zu bekommen.
Der letzte Schrei: Personologie (Personology)
Zu den Letzteren gehören die Anhänger der Personologie. Sie beruht darauf, anhand der körperlichen Erscheinung (Physiognomie) eines Menschen Rückschlüsse auf den Charakter zu ziehen. Dabei beruft man sich auf angebliches Faktenwissen, das seit der Antike „besteht“ und jetzt nach Meinung der Anhänger des Verfahrens wiederbelebt werden sollte. Wer dabei nachsucht, wird kaum an Naomi Tickle vorbeikommen, die dazu zahlreiche Bücher geschrieben hat. Sie reduziert die körperliche Erscheinung auf das Gesicht und behauptet, dass man aus ihm alles über einen Menschen herauslesen könne. Noch weiter versucht ein US-amerikanisches Unternehmen die Physiognomie zu reduzieren: Dies Unternehmen behauptet, es könne anhand von Fotos feststellen, welchen Charakter ein Mensch habe und ob zwei Menschen zueinanderpassen würden – man erhofft sich wohl, damit beim Dating Fuß zu fassen. Die Liebepur berichtete bereits vor langer Zeit über ein Verfahren, einen Partner per Gesichtsanalyse zu finden.
Wie funktioniert „Gesichterlesen“?
Kurz und knapp: Das Gesicht kann „gelesen“ werden, und zwar, indem man kleinste Veränderungen an der Gesichtsmuskulatur und an den Augen beobachtet – das ist die gute Nachricht. Die Schlechte folgt sogleich: Dazu bedarf es einer besonderen Veranlagung oder jahrelanger Übung.
Der Charakter ist anhand von Fotos nicht feststellbar
Anhand von Fotos kann man das den Charakter also nicht auslesen – dies ist völlig unmöglich. Wer es dennoch behauptet, begibt sich auf die schiefe Bahn zwischen Wissenschaftlichkeit und Herumtrickserei. Lassen sie mich Ihnen schnell verraten, wie man es machen könnte: Mithilfe einer Vergleichsdatenbank werden ähnliche Gesichter gefunden, von denen man relativ simple Charaktermerkmale gespeichert hat. In der Ausgabe dieser Daten wird dann die Barnum-Methode in Kombination mit den Grobdaten verwendet: Allgemeine Aussagen, die etwas Unterhaltungswert haben, aber keinen wissenschaftlichen Gehalt, und die nahezu jedermann akzeptieren kann.
Nun gibt es bereits Unternehmen, die Charakterstudien nach Fotos anbieten. In einem Fallbeispiel versuchte es eine Mitarbeiterin des „Liebesverlags“ und erhielt folgendes Orakel (übersetzt und in ganze Sätze umgewandelt):
Sie bevorzugen, andere in Ihre Entscheidungsfindung einzubeziehen, dabei fragen Sie viele andere Personen nach ihrer Meinung und vertrauen sogar einigen von ihnen.
Ja, Gesichter lügen nun einmal nicht, es sei denn, sie würden lügen – denn wenn man jedem Menschen am Gesicht ablesen könnte, wes Geistes Kind er ist, dann würden charmante Betrüger keine Chance haben . Die Praxis – nun ja: Seufzt da die ein oder andere Dame in meiner Leserschaft?
Bildquelle: Kirchoff, „Lehrbuch der Psychiatrie“ (1892)