Die Geliebte als Opfer – oder die restaurative Kraft der Psychologie
„Die moderne Geliebte führt, anders als die Mätressen und Konkubinen früherer Zeiten, ein Leben im Schatten“, heißt es im Klappentext eines Buches. Doch sind die „Schattenfrauen“ nun wirklich Opfer, die sich aus „Abhängigkeiten befreien“ müssen? Oder spielt den Autorinnen und Autoren die bürgerliche Ideologie einen Streich, die einfach nicht zulassen will, dass Frauen auch mit vollem Bewusstsein „die Geliebte“ sein können, ja, dass viele Frauen inzwischen das Leben einer Geliebten durchaus dem Leben einer Ehefrau vorziehen – wenigstens auf Zeit?
Die Geliebte als Opfer – Folge der psychotherapeutischen Literatur?
Man könnte auch Fragen: Warum halten wir Frauen, die ein Leben als Geliebte führen, im Zeitalter einer weit fortgeschrittenen Emanzipation eigentlich noch für „Opfer“? Und warum, werden diese Frauen oftmals als Patientinnen dargestellt, die dringend der Therapie bedürfen? Ist es die restaurative Kraft der Psychologie, die uns Heutige auf die „bürgerlichen Ideale“ das 19. Jahrhunderts zurückführen möchte?
Stimmt es denn eigentlich, wie einige Therapeuten behaupten, dass die Frauen, die als Geliebte agieren, sich in „Schattenlieben“ befinden und darüber unglücklich sind? Sind sie so therapiebedürftig, dass ihnen ein Weg „in eine neue Freiheit und in persönliches Wachstum“ gezeigt werden muss?
Die Geliebte in der populärwissenschaftliche Literatur – Opas Vermächtnis?
Es gibt eine mögliche Erklärung: Die Autorinnen und Autoren, die beliebte Standardwerke über die „Geliebte“ schreiben und sie dabei als Opfer deklarieren, hatten ihre Hauptschaffensperiode in den Zeiten des Aufbrauchs der Frauen (etwa zwischen 1970 und 1990), aber nicht in der Zeit, als junge Frauen begannen, die erotischen Früchte der neuen Freiheit zu ernten (etwa ab den 1990er Jahren). Lesen wir also Opas und Omas Vermächtnis? Bei Büchern von Therapeutinnen und Therapeuten muss man zudem dies bedenken: Nur, wer in einer tiefen Krise mit der Rolle als Geliebte steckt, begibt sich in Therapie – also hören wir von Therapeuten stets die einseitigste aller möglichen Versionen.
Selbstbewusste Geliebte sind nicht neu
Wenn wir nicht ganz so weit in die Geschichte zurückgehen wie zu den „Mätressen und Konkubinen“, dann finden wir bereits gegen 1900 Berichte von Frauen, die sich ganz bewusst in die Rolle der Geliebten begeben haben, und selbstverständlich lebten sie diese Beziehungen nicht „im Licht“, sondern ebenfalls im Schatten. Ich verweise in diesem Zusammenhang immer gerne auf die Novelle „Nixchen“ von Helene Keßler, die sie 1899 (29-järig) veröffentlichte. Darin wird die Heldin noch kurz vor der Ehe mit einem anderen Mann die Geliebte eines Autors – und zwar aus freien Stücken und ohne moralische Bedenken.
Nach meiner Meinung wäre es an der Zeit, uns einmal vom Frauenbild unserer Urgroßväter zu lösen, das Frauen als hilflose Geschöpfe sah, denen Männer nach Lust und Laune den Kopf verdrehen konnten und die daraus resultierend zu Opfern wurden.
Was meinen eigentlich Sie dazu?
Bild oben: Originalausgabe „Nixchen“ im Besitz des Autors, unten: Kolorierung eines Fotos von 1920, Ausschnitt.