Ein paar Worte über das Schämen – im 21. Jahrhundert
Peter Handke (1) schrieb ein paar Sätze, die sehr deutlich machen, warum wir – letztendlich – immer noch so schamvoll sind. Das Zitat stelle ich an den Anfang:
Schiefe Blicke, so lange, bis die Beschämung nicht mehr nur possierlich gemimt wurde, sondern schon ganz innen die elementarsten Empfindungen abschreckte. „Weibliches Erröten“ sogar in der Freude, weil man sich dieser Freude gehörigst schämen musste.
Gut – dies mag Frauen betreffen. Und sie mögen einer anderen Zeit entstammen. Aber Frauen gibt es auch heute noch, nicht wahr? Und sie unterscheiden sich auch ein wenig von ihren Müttern und Großmüttern. Und doch: Vielleicht schämen Sie sich. Vor dem Date, wenn Sie daran denken, auf gar keinen Fall Gelüste zu entwickeln, aber dennoch „appetitlich“ zu wirken. Oder während des Dates, wenn Sie eigentlich längst das Kribbeln fühlen, sich aber keinesfalls dazu bekennen wollen. Natürlich auch nach dem Date, wenn Sie aufstehen und sich rechtfertigen, der Lust vor lauter Scham und Ehrbarkeit eben nicht nachgegeben zu haben. Wenn Sie sich also schämen, sich geschämt zu haben, und dies rechtfertigen müssen. Und sicher auch dann, wenn sie sich ihrer Lust hingegeben haben … und Sie nun beschämt sind, schwach geworden zu sein.
Ob Sie sich versagt haben, oder ob sie freudig die Lust genossen haben – immer wieder sagt das Mäuschen hinter dem Ohr: „Du solltest dich schämen.“
Ach, das ist bei Ihnen nicht so? Sie Glückliche! Und wenn sie nun nicht vor Scham erröten, weil Sie ein bisschen geflunkert haben, dann sage ich: Meine Hochachtung – dann wissen Sie, was sie begehren oder was sie sich zumuten wollen.
Apropos „possierlich vorgeben“ – dies zu können, mag zwar eine Folge der Schamhaftigkeit, zu der Sie möglicherweise erzogen wurden – es wirkt aber wirklich sehr einladend. Und wenn Sie es beherrschen, ist es ein guter Trick, sich einen Moment lang vor sich selbst zu entschuldigen – nur nicht zu lange. Aber das nur am Rande.
Scham – erfolgreich eingepflanzt und beibehalten?
Und wenn es Sie doch betreffen sollte? Dann kann es sein, dass sie nicht dagegen ankämpfen können, weil es so fest in Ihnen verankert ist. Dann haben irgendwelche Leute geschafft, die Scham tief in Sie einzupflanzen. Vielleicht mit Schlägen, Drohungen oder Entzug von Freuden. Und vielleicht auch nur mit ständigen Wiederholungen. Es ist schwer, damit umzugehen – übrigens auch für manche Männer, die sich ständig schämen.
Wann Sie über sich nachdenken sollten
Was wirklich schlimm ist? Wenn Sie es für richtig halten, sich zu schämen, wo es nichts zu schämen gibt. Und noch schlimmer wäre, wenn sie andere darüber belehren wollten, doch die Schamhaftigkeit zu wahren. Dann kommen die Menschen nie im 21. Jahrhundert an.
Ach, Scham ist ein natürlicher Prozess? Ja, vielleicht – manche Menschen behaupten dies. Aber die Frage wäre doch eher, ob Sie – ja SIE – im Einklang mit der Natur leben, wenn Sie sich schämen.
(1) Wunschloses Unglück: Erzählung von Peter Handke