Die apersonale Geilheit aus der Sicht von Herr Bonelli
Raphael Bonelli ist Psychiater, und was er mit den 1968ern zu tun hat, ist bestenfalls das Geburtsdatum. Was ihn nicht daran hindert, ausgiebig über den „Narzissmus“ dieser (ja, dieser!) Generation zu reden, also der Menschen, die heute so zwischen 70 und 80 Jahre alt sind.
Was weiß er schon von dieser Generation? Ich fürchte: gar nichts. Alles, was er wissen könnte, hat er „erlesen“, und wie es scheint, überwiegend aus der Springer-Presse von damals, die sich genüsslich die Verwerfungen herausgepickt hat – und dies teilweise auch bis heute noch tut. Er schreibt im „Standard“:
Durch die apersonale Geilheit als Prinzip haben die 68er die Libido vom Du abgewendet und auf sich selbst gerichtet. Genau so beschreibt Sigmund Freud die Psychodynamik des Narzissmus.
Ach, der Herr Freud taucht wieder auf
Ach, Sigmund Freud! Der Mann ist so etwas von 19. Jahrhundert, wie man nur sein kann. Und Geisteswissenschaftler sind nun mal – ob sie es wollen oder nicht – Produkte ihrer Zeit. Der Trick von Bonelli ist der Königstrick der Psychoanalyse: Was damals galt, muss immer gültig bleiben – schließlich ist man ja Wissenschaftler.
Ein paar sexuelle Aspekte, um eine ganze Genartion zu diffamierten?
Begriffen hat Bonelli gar nichts von dem, was 1968 geschehen ist: Wer nur ein paar Aspekte herausbricht und daraus noch die Sensationen herausfiltert, muss zwangsläufig zu falschen Resultaten kommen. Denn die Frage ist ja: Was war vorher? Wie hatte sich die deutsche (und die österreichische) Gesellschaft während der Nazi-Herrschaft und in der Dunkelbürger-Periode danach entwickelt? Wie viele Nazis und Kollaborateure arbeiteten offen oder im Verborgenen daran, den Daumen auf jede neue Entwicklung zu halten? Und wie vielen Mitgliedern konservativer Parteien war es gerade Recht, dass der Nicht-Nazi-Teil konservativer Repressionen erhalten blieb?
Die Sexualität? Ach, du liebes Bisschen. In einer Zeit des Aufbrauchs wird manches diskutiert, was dann in der Boulevardpresse ausgeschlachtet wurde, damit sich das Publikum prächtig empört.
Natürlich kann, wer will, aus der Presse oder anderem Schrifttum rechtskonservativer Kreise herausfiltern, dass „Sex als Allheilmittel“ verschreiben wurde. Und ja, man hat Wilhelm Reich gelesen. Aber das hatte auch einen Vorteil: Nämlich sich überhaupt für die Psyche zu interessieren, und damit auch andere Freud-Schüler und vor allem Freud-Gegner zu lesen. Übrigens wird dieser Herr Wilhelm Reich eher von Esoterikern verehrt – und sie tun es heute noch. Und: Sie sind alles andere als die Vertreter „apersonaler Geilheit“. Und jene sind wieder in keiner Weise identisch mit dem Personenkreis, der bei „#MeToo“ ins Gespräch gebracht wurde.
Die Säulenheiligen der Psychologie udn die Dynamik des Lebens
Das Beispiel des Artikels im Standard zeigt, was passiert, wenn die Welt plötzlich ausschließlich aus psychologischer Sicht interpretiert werden soll. Sie verfällt zu einem Gedankengebäude, in dem ein paar Säulenheilige stehen, das aber keinen innere Dynamik entwickeln konnte.
Und das ist wahrhaftig kein Gewinn, sondern ein Verlust für die Menschheit.