Sexualität: Das Gute erreichen geht nur mit Denken
Das Gefährlichste für jeden Ideologen und jeden religiösen Fanatiker ist das individuelle Denken. Deshalb versuchen sie, es – soweit demokratisch möglich – zu unterbinden. Indessen: Sie haben es in der Hand, Ideologen aller Couleur Paroli zu bieten: Denken Sie einfach wieder selbst.
Vor einigen Tagen war ich unter Menschen, die das Gute wollen. Ob sie es immer schaffen, sei dahingestellt. Aber in einem Punkt stimme ich ihnen zu: Sie raten dazu, sich nicht von den vielen vorgefassten Meinungen, die täglich auf uns einströmen, vereinnahmen zu lassen. Diese Meinungen würden das eigenständige Denken zunächst behindern und schließlich zerstören.
Das gilt nicht nur für diejenigen, die sich gegenwärtig auf Straßen und Marktplätzen aufhäufen, um sich an Vorurteilen zu berauschen – es gilt auch für alle, die sich über die jeweils populären sexuellen Sittenlehren echauffieren – oder über deren Gegenteil.
Stuttgart: Sexuelle Ideologen auf beiden Seiten
Ein typisches Beispiel dafür ist Stuttgart: Dort demonstrieren die Horden der Gutmenschenschaft mit Scheinargumenten gegen etwas, das eigentlich selbstverständlich sein sollte: moderne, sachliche und emotionslose Sexualaufklärung. Ihnen entgegen stehen Menschen, die ebenso verblendet sind: denen geht es gar nicht um Sexualaufklärung, sondern darum, ihren weitgehend von Ideologien geprägten Einstellungen publik zu machen.
Das sexuelle Menschenbild entsteht nicht in der Schule
Über die Wahrheit wird weder hier noch dort gesprochen, und sie ist einfach. Das Menschenbild wird in der Familie geprägt, und was die Familie versäumt, wird aus dem Freundeskreis und aus den Medien eingesogen. Die Schule kann, wenn überhaupt, bestenfalls moderieren, wenn es darüber zu Konflikten kommt. Sexualaufklärung in der Schule ist deshalb eine notwendige Verpflichtung, weil die meisten Eltern sie versäumen – nicht, weil es der Lehrerschaft so viel Freude macht, darüber zu sprechen.
Deutsche Dummheiten: Hier „GUT“, dort „BÖSE“
Der „deutsche Kardinalfehler“ prägt Gegner wie Befürworter in jeder Frage der Sexualität: Zuerst fragt man sich, ob etwas „Gut“ oder „Schlecht“ ist, dann fragt man sich, WAS es ist und WIE es eigentlich ist. Und so kommen dann die Urteile zustande: Etwas, das den Normen und Standards der bürgerlichen Gesellschaft entspricht, ist gut – egal, wie es ist. Entspricht es den Normen nicht, ist es schlecht.
Gottes Wille und Teufels Werk als Scheinargumente
Im Grunde hasst die bürgerliche, klerikal gebundene Gutmenschenschaft Homosexualität – nicht nur in Stuttgart. Zudem ist es dort Mode, sexuelle Abweichler anderer Ar, aber auch Pornografie und Prostitution zu hassen. Weil alle dies „Schlecht“ ist, weil all dies „Teufelswerk“ ist und weil all dies zum Zerfall der sittlichen Werte beiträgt. So jedenfalls wird bei Denkverlust argumentiert.
Ein Teil der Motive hat nicht einmal streng religiöse Wurzeln. Das Urgestein des schwäbischen Pietismus hasst jede Art von Lust, weil sie den Menschen daran hindert, die Frömmigkeit zu leben. Frömmigkeit wird oft als „etwas Gutes“ hingestellt, doch könnte sie ebenso gut eine Flucht vor der Realität bedeuten – was allgemein nicht als günstige Lebenshaltung gilt.
WAS und WIE vor GUT und BÖSE
Möglicherweise sollten wir uns darauf besinnen, dass wir nicht zuerst nach „Gut“ und „Böse“ fragen sollten. Wer Menschen berät, begleitet oder versucht, sie etwas zu lehren, wird schnell herausfinden, dass er sich mit der Bewertung in „Gut“ und „Böse“ das Vertrauen vermasselt. Der Therapeut Christoph Josef Ahlers sagt in seinem neuen Buch: „Gut und Schlecht sind keine keine Kategorien meiner Berufsausübung.“ Er hat recht: Jeder Mensch hat seine Beweggründe, sich in der Liebe, der Lust und der Leidenschaft in irgendeiner Weise zu verhalten.
Es wird immer Personen geben, die bei den Beweggründen weghören und sich lieber der bereits verinnerlichten „Wahrheiten“ zuwenden. Sie dürfen dies selbstverständlich tun, auch öffentlich. Aber es wäre ehrlicher, sie würden dann sagen: „Alles, was ich sage, ist von Religion oder Ideologie fremdbestimmt, ich hatte nicht vor, selber zu denken.“
Das eigenständige Denken schützt vor Ideologien
Das eigenständige Denken wird nicht durch Werbung, Medien oder Verführungen eingeschränkt, und auch nicht durch Religion oder Ideologie. Sondern lediglich dadurch, dass wir zu faul oder meinetwegen zu ungeübt sind, unser Bild der Welt eigenständig zu gestalten.
Und bei der Partnersuche? Da gilt Ähnliches. Gleiten sie nicht in den sogenannten Mainstream ab. Nur Sie können (bei einigem Nachdenken) wissen, welches Verhalten gut für sie ist und nach wem Sie suchen müssen, um glücklich zu werden.
Zitat von C. J. Ahlers aus: „Himnmel auf Erden & Hölle im Kopf“, München 2015.