Warum Sie die Liebes-Pyramide auf den Kopf stellen müssen
Eine der Kernfragen, die gerade junge Menschen immer wieder beschäftigt, ist diese: In wen werden wir und verlieben und warum gerade in diesen?Werden wir zusammenbleiben? Und wovon ist dies abhängig? Wir haben uns daran gewöhnt, darauf ebenso dumme wie dreiste Antworten der Wissenschaft zu erhalten. Laut „Wissenschaft“ verlieben wie uns mal „noch genau so wie die Neandertaler“, mal zählen „gleiche Charaktereigenschaften“.Unqualifizierte Glaubenssätze über die Liebe nützen nichts
Sie würfen sich auf eines verlassen: Alle diese Antworten sind, isoliert betrachtet, ein einziger Unfug, der dazu dient, bestimmte „Glaubensrichtungen“ in der Wissenschaft hochzuhalten. Sie dürfen die Menschen (es sind nicht nur Forscher), die diese Glaubenssätze ständig wiederholen, gerne als „unqualifiziert“ bezeichnen – ich würde mir wünschen, dass sich mehr Journalisten dazu entschließen würden.
Wie baut sich unser Liebesbereitschaft auf?
Seriöse Liebesforschung geht anders vor. Sie berücksichtigt folgende Faktoren, die hier stufenweise wiedergegeben werden –dabei sind Abweichungen je nach Einstellung des einzelnen Forschers möglich:
1. Unser Dasein als eine Form der sozial lebenden Säugetiere.
2. Unseren Wandel während der Evolution (Beispiel: Neolithikum).
3. Den Einstieg in höher entwickelte Kulturen (1).
4. Die Eigenschaften, die uns angeboren sind.
5. Jene Eigenschaften, die wir früh erworben haben.
6. Wünsche, die wir (warum auch immer) an unseren Partner haben.(2)
7. Die Beziehungserfahrungen, die wir mitbringen.
8. Die Überzeugung von uns selbst, die wir an den Tag legen.
9. Unseren gegenwärtigen emotionalen Zustand.
Warum muss die Pyramide von Gordon auf den Kopf gestellt werden?
Diese Pyramide ist ein etwas modifiziertes Modell des Robert M. Gordon, der eine fünfstufige Pyramide ähnlicher Art unterstellte. (3) Es kommt dabei aber nicht auf die einzelnen Schritte, sondern auf die Pyramidenform an. So gut gemeint das Modell ist, befriedigt es jedoch nicht. Wissenschaftler haben die Tendenz, „grundlegende“ Wahrheiten zu verkünden, und unser alltägliches Leben schert sich wenig um „Grundlagen“, sondern ankert sich fest an Ereignissen – im Liebesleben besonders auf Begegnungen. Wollen wir also wissen, was Liebe für uns ist, müssen wir die Pyramide auf den Kopf stellen.
Wenn wir das einmal annehmen, entscheidet darüber, ob wir uns verlieben, unser gegenwärtiger emotionaler Zustand (laut Gordon in der Übersetzung: „Die psychische Verfassung“, aber das war mir eine Nummer zu groß).
Das Leben findet JETZT statt – und die Liebe auch
Dies ist sehr bemerkenswert, denn in dem Zustand, in dem wir uns heute (in unsrem Lebensalter, in unserer Position) befinde, ist dabei ebenso entscheidend wie der Ort, an dem wir uns befinden – eben unser „Hier und Jetzt“. Wir dürfen getrost annehmen, dass wir emotional unterschiedlich entscheiden, aber auch, dass wir uns „situativ“ entscheiden. Aber was passiert nun genau?
Was sich alles in einer Dame bewegt, die einen Partner sucht
Nehmen wir einmal an, da wäre eine Dame auf „seriöser Partnersuche“. Sie befindet sich in einer positiven emotionalen Phase, die geprägt ist vom Bewusstsein der eigenen Stärken und Fähigkeiten. Ihre Beziehungserfahrung gebietet ihr, einen gleichfalls selbstbewussten Mann zu suchen, der kein Macho-Typ ist. Allerdings wünscht sie sich, dass er einen größeren Wohlstand mitbringt und vor allem auch ein akzeptabler Vater sein könnte. Sie verführt dabei mit geschliffenen, aber nicht als „raffiniert“ anzusehenden Methoden, die ihren kulturellen Standards entspreche, getrieben von der Urkraft, ein sexuelles Wesen zu sein.
Die Liebes-Pyramide – welche Bedeutung hat sie wirklich?
Die Spitze der Pyramide, die ins „Hier und Jetzt“ eintaucht, ist dabei keinesfalls starr, sondern setzt sich bei jeder neuen Begegnung aus Komponenten zusammen, die gerade stärker oder schwächer in die neue Begegnung eingehen. Und deshalb wird aus einer Begegnung entweder eine schöne Liebe, eine langjährige Beziehung oder eine vorübergehende Affäre.
Was bedeutet dies? Gordon meint, wir würden bei der Liebe in die Pyramide sozusagen „emporstiegen“, von den Ur-Gelüsten bis zur aktuellen Situation. Um sie nicht aus dem Ruder laufen zu lassen, mahnte er „emotionale Reife an“, die in einer Beziehung letztendlich zur dauerhaften Liebe führen.
Der Alltag ist nicht das, was der Psychotherapeut dafür hält
Das mag alles stimmen – aus der Sichtweise des Psychotherapeuten, der ja gerne im kindlichen Urgrund wühlt und seien Erfahrungen aus den Leidensgeschichten seiner Klienten zieht.
Doch die Erfahrungen des Alltags lehren uns genau das Gegenteil: Aus dem vielschichtigen Modell treten bald diese, bald jene Komponenten hervor, und sie erfüllen heute diese Bedürfnisse und morgen andere. Jedes Mal, wenn sich die Ebenen verschieben, wählen wir etwas abweichende Partnerinnen oder Partner.
Wann Psychotherapie für die Liebe sinnvoll ist
Erst, wenn wir bemerken, an unserer Vergangenheit nicht mehr zu wachsen, aus Fehler und Vorkommnissen unliebsamer Art nicht zu lernen und ständig in Liebefallen zu tappen – erst dann wissen wir: Es muss sich etwas ändern. Und erst dort beginnt der Horizont, der sich dem Psychoanalytiker öffnet – zuvor muss auch er im Leben seiner Mitmenschen wie auch im eignen Leben das Geschehene so erleben, wie es auf ihn im „Hier und Jetzt“ einwirkt.
(1) Gordon ignoriert die Kulturen, sie spielen aber in vielen Ethnien eine große Rolle
(2) Die Wünsche werden von Gordon nicht ausreichend beachtet. Sie müssen keine psychologischen Ursachen haben, sondern können auch durch Medien (Märchen, Illustrierte, Seifenopern) vermittelt worden sein („Prinz“, „Traummann“, „Mr. Right“)
(3) Gordon nennt nur fünf Pyramiden-Ebenen: « «Gattungseigenschaften (Species Traits), Individuelle Eigenschaften (Individual Traits, verinnerlichte Beziehungserfahrungen (Relational Intializations), Überzeugungen (Beliefs) und aktuelle psychische Verfassung (Context))»