Anders fühlen als der Partner in der Liebe – ist es möglich?
Mir klingt es immer in den Ohren, wenn Menschen einander sagen: „Oh, ich fühle genau wie du …“. Es ist sicher die „frommste“ Lüge, die man einem Menschen antun kann. Im Moment mag sich der so Angesprochene sogar wohlfühlen und er mag auch erleichtert sein: „Endlich fühlt jemand genau wie ich.“
Manchmal merkt man als so Angesprochener später, dass es ein Trugschluss war. In Wahrheit ist es ein Ausdruck kollektiver Euphorie, dass alle Mitglieder einer Gruppe (beispielsweise einer Selbsterfahrungsgruppe) angeblich „fühlen“ können, wie sich der Einzelne fühlt.
Sex-Dienstleister liefern „gleiche“ Gefühle
Auch die Liebe versetzt uns in eine Art Rauschzustand. Nehmen wir ein ungleiches Paar – eine Hure und ihr langjähriger Freier oder ein Callboy und seine langjährige Kundin als Extrem: da weiß der erotische Dienstleister genau, welche Gefühle beim Kunden zu erzeugen sind – und genau die liefert er/sie ab.
Beim Blind Date sind „gleiche“ Gefühle selten
Beim Blind Date, bei dem nach und nach Gefühle aufsteigen, glaubt man oft ebenfalls, der andere hätte „genau die gleichen Gefühle“, und nahezu jeder Mensch hat schon einmal erlebt, wie betäubend süße Liebesschwüre sein können. Wir glauben ihnen, weil sie zur Verliebtheit dazugehören, jedenfalls bis zum nächsten Morgen.
Die schöne Illusion, „gleich“ zu fühlen
Dabei dürfte klar sein: Der Andere ist ein Anderer, und er hat ganz andere Gefühle – und im schlimmsten Fall haben sie mit der schönen Illusion der letzten Nacht nicht das Geringste zu tun. Ich erinnere mich an die Geschichte eines jungen Mann, der eine deutlich reifere Frau am „Morgend danach“ mit Liebeschwüren überschüttete. Sie nahm ihn nach einer Weile still zur Seite, und sagte ihm: „Genau das wollen wir Frauen ständig hören, mein Schatz … aber jetzt ist es genug.“
Ein Blind Date kann alles sein – auch der Versuch, sich einen Partner zu „holen“, der zu seinen momentanen Bedürfnissen passt, jemand, der einem süße Illusionen schenkte und dabei in Wahrheit ganz andere Gefühle hatte.
Anders fühlen? Abweichend fühlen? Wenn wir überhaupt erfahren wollen, wie ein anderer Mensch fühlt, dann müssen wir schon etwas mehr über ihn erfahren als das, was er uns unter der süßen Droge Verliebtheit ins Ohr flüstert. Solange wir seine tieferen Gefühle nicht kennen, müssen wir das tun, was eigentlich als „neurotisch“ gilt:
Wir müssen glauben, dass der andere etwas fühlt, was wir gerne hätten, dass er es fühlt.
Für ein paar Liebesnächte reicht dies übrigens völlig aus – und wer mehr will, der muss sich eben nicht mit sich selbst und seinen Illusionen, sondern mit der Welt des anderen beschäftigen. Eine schwere Aufgabe – aber eine, die über alle Maßen lohnend ist.