Charakter – Bedeutung für die Partnersuche oder nicht?
Cissy Kraner ist eine der wenigen, die den Begriff „Charakter“ so auf die Schippe nahm, dass sie ihn schon wieder auf den Kopf traf: Der Novak, so die Diseuse, habe am „ganzen Leib Charakter“. Als sie das sang, stand der Begriff „Charakter haben“ noch fest wie der Roland von Bremen: Entweder man hatte ihn, oder man hatte ihn nicht. Wer sehr viel davon hatte, war charakterfest, wer ihn gar nicht hatte, war charakterlos. Wer dies heute auf den Punkt bringen will, muss dies wissen: Charakter hatte, wer verlässlich die gleiche Meinung vertrat und Zusagen auch einhielt. So wie der Novak: Der hatte eben „angezogen oder als ein Nackter am ganzen Leib Charakter“.
Bei so viel Häme sollten wir uns nun allerdings fragen: Was ist denn der Charakter wirklich? Und hat der Charakter irgendeine Bedeutung für die Partnerschaft?
Charakter – fest gemauert in der Erde oder nicht?
Ach, wenn alles so einfach wäre. Der Begriff „Charakter“ geht auf die Annahme zurück, dass ein Ding, aber auch ein Lebewesen prägende, nahezu unveränderliche Eigenschaften haben müsse. Insoweit wäre es noch einfach: Dann wäre der Charakter die „Summe bleibender Eigenschaften“. Tatsächlich verwendet der Volksmund den Begriff in dieser Art: dort sagte man lange Zeit: „Er hat Charakter“, oder (verstärkend) „er ist charakterfest“.
Charakter als „sittliche Stärke“
Allerdings kann man nun einen Schritt weitergehen, der auch bereits in alten Lexika ausführlich beschrieben wird: Dann nämlich wird der Charakter zu einem Begriff für die sittliche Gesinnung oder die moralischen Grundsätze, die der Mensch mit starkem Charakter „durch die Kraft des Willens auch unter widrigen Umständen zu behaupten vermag“.
Willensstärke, Normen und Wertvorstellungen
Hier beginnt man also zu unterscheiden: Der willensstarke Mensch, die „starke, ausgeprägte Persönlichkeit“ wie man heute sagen würde, ist nicht allein entscheidend, sondern wichtig ist, wie er sich in „sittlicher“, Hinsicht verhält – heute würde man sagen, ob er „den eigenen Normen und Wertvorstellungen folgt“. Dies entspricht ganz und gar der alten Lexikondefinition, nach der als „charakterlos“ jemand bezeichnet wird, der „nicht die Energie des Willens besitzt, (an) sittlichen Gesinnungen, die er grundsätzlich anerkennt, … (im Alltag), auch unter Hemmnissen, Versuchungen usw. festzuhalten.“ Man könnet hier auch vereinfacht sagen: „Charakterlos ist jemand, der den eigenen Grundsätzen häufig nicht folgt, sondern sich von den Umständen zu anderen Handlungen verführen lässt.“
Dummheiten: Charakter in „gut“ und „schlecht“ teilen
Allerdings reicht diese Definition vielen nicht aus, und sie begannen, Erbsen zu zählen wie das Aschenbrödel: So entstanden dann die „guten Charaktereigenschaften“ und die „schlechten Charaktereigenschaften“ im Sinne der abendländischen Dualismen. Wo diese Denkweise sich durchgesetzt hat, gibt es also nicht mehr einfach „Eigenschaften“, sondern alle grundlegenden Vorstellungen werden in „gute“ und „schlechte“ sortiert. Alle sogenannten Charaktereigenschaften werden auf einer Webseite angezeigt – das Problem ist nur, dass es sich dabei nicht durchgehend um Charaktereigenschaften, sondern auch um Verhaltensweisen und Stimmungen handelt.
Charaktereigenschaften – Eintopf oder etwas Besonderes?
Im 19.Jahrhundert lehnte man ab, Charaktereigenschaften als „angeboren“ zu bezeichnen – und man hätte gut daran getan, dies beizubehalten. Die angeborenen Eigenschaften wurden damals als „das Naturell“ bezeichnet, die Grundströmungen als „Temperamente“.
Heute ist ein neuer Begriff entstanden, der allgemeine als „Persönlichkeitseigenschaften“ oder „Persönlichkeitsmerkmale“ verwendet wird. Er ist allerdings genau so unscharf und verwirrend wie alle zuvor verwendeten Begriffe. Seit die Psychologie die Weltherrschaft über die Definition der Befindlichkeit der Menschen angetreten hat, gilt laut Wikipedia:
Eine Persönlichkeitseigenschaft, auch „Persönlichkeitsmerkmal“ genannt, ist eine relativ überdauernde … Bereitschaft …, die bestimmte Aspekte des Verhaltens einer Person in einer bestimmten Klasse von Situationen beschreiben und vorhersagen soll“.
Persönlichkeitsmerkmale – frisch angemachter Begriffssalat
Nun haben wir den Salat – wir können uns also nicht mehr auf das „Naturell“ oder auf die „Temperamente“ verlassen, und schon gar nicht auf „festgeschriebene allgemeine Eigenschaften“ oder „verlässliche Werte“, sondern müssen nun alle Eigenschaften, die sich in der Person im Lauf der Zeit sammeln, neu bewerten – nur, um sie anschleißend doch wieder in drei oder fünf psychologische Kästchen einzuordnen.
Was wissen wir nun am Ende mehr über die Welt des Charakters, der Persönlichkeit und alles, was uns dabei zur Partnersuche einfällt? Zunächst nicht mehr, als Cissy Kraner vom Novak wusste: Der hätte heute nicht mehr am ganzen Leib Charakter, sondern Persönlichkeitsmerkmale.
Paare – was wollen sie eigentlich vom Charakter?
Versuchen wir es einmal anders: Was suchen wir im anderen Menschen? Wer sich diese Frage stellt, wird schnell an die Grundbegriffe der Partnerschaft herangeführt:
Partnerschaft bedeutet nämlich, Synergien freizusetzen. Wenn wir als Paar mehr geistige Größe, emotionale Zufriedenheit, soziale Kompetenz oder wirtschaftlichen Erfolg haben, dann sind wir auch mit der Partnerschaft zufrieden. (Liebepur-Definition)
Paarbeziehungen kontra Psycho-Theorien
Unglücklicherweise korrespondiert dieser Grundsatz in keiner Weise mit der Psychologie, die mit ganz anderen Begrifflichkeiten arbeitet. Lebensfreude, Humor, Kompromissbereitschaft, gegenseitiges Ergänzen, Problemlösungskompetenz und dergleichen sind nicht unbedingt die Höhepunkte psychologischer Ansichten.
Was der Psychologe über die Persönlichkeit zu wissen glaubt
Vielmehr glaubt die Psychologie, mit diesen drei Faktoren auszukommen:
Neurotizismus, Extraversion und Offenheit für Erfahrungen (NEO-Modell). Auf Deutsch übersetzt bedeutet dies etwa dies:
– Gefühlsmäßig stabil oder eher labil? (Neurotizismus)
– Nachdenklich oder forsch? (Extraversion)
– Konservativ-beharrend oder offen für Neues?
Psychologie – inkompetent für Fragen der Partnersuche?
Wenn ich Sie jetzt frage: „Glauben Sie, dass dieses Modell ernsthaft bei der Partnersuche eingesetzt wird?“ Dann werden Sie voraussichtlich sagen: „Um Himmels Willen, das ist doch kein psychologisches Modell für Partnerschaften – und pragmatisch ist es schon gar nicht“.
Sollten sie dieser Meinung sein, so muss ich Sie korrigieren: Dies Modell ist die Basis aller „modernen“ psychologischen Modelle, und auf ihm beruhen nahezu alle Paarforschungen, Partnerübereinstimmungstests und dergleichen mehr.
Ja, und nun? Nun stünde die Psychologie nackt da wie der Novak, wenn es nicht das Volk gäbe, das reagiert wie in dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern: Es glaubt daran, dass der Kaiser nicht nackt ist und die Wissenschaft tatsächlich Partnerübereinstimmungen feststellen kann.
Psychologen könnten mehr, wenn sie wollten
Zu Ehren der Psychologie muss nun ein Satz fallen: Es gibt auch dort ernsthafte Zweifler an den Theorien, die allgemein als „NEO“, FFM oder OCEAN bekannt sind – und interessanterweise entstammen die Zweifler fast immer der Gruppe der Paartherapeuten. Von ihnen stammen auch Ansätze, die „beziehungsrelevanten Aspekte“ zu isolieren beziehungsweise neu zu bewerten. Da ein öffentliches Interesse daran besteht, stabile Partnerschaften zu entwickeln, sind diese Bemühungen höchst interessant. In einer Zeit beispielsweise, in der sich viele Dinge schnell verändern, ist es interessanter, wie schnell ein Paar aus einer Schieflage wieder ins Gleichgewicht kommt als die Eigenschaft beider, „beharrend“ zu sein. Es gäbe also noch viel zu tun – und immer noch gibt es Hoffnung, dass die Psychologie eines Tages sinnreicher forschen wird als heute.
Lesen Sie nächste Woche in der Liebepur: „Die Dynamik der Persönlichkeit und der Paare“.
Die Zitate aus alten Lexika wurden folgender Webseite entnommen: Retrolib.