Fernbeziehung und Wissenschaft – ein Problemfall
Auch Ausgewogenheit kann zum Problem werden. Es gibt seit einiger Zeit einen relativ brauchbaren Artikel über „Fernbeziehungen“ in Wikipedia, und er stellt die Vor- und Nachteile von Fernbeziehungen, wie ich meine, recht ausgewogen gegenüber. Über Formulierungen mag man sich ja in Lexika immer streiten – aber das wäre noch kein Grund, den Artikel anzufeinden, wie dies offenbar gerade geschieht.
Zwei Probleme werden bei der Behandlung des Phänomens „Fernbeziehung“ in Wikipedia deutlich:
1. Menschen machen in Beziehungen unterschiedliche Erfahrungen, die in den Bereich der Privatheit gehören und deren Offenlegung sie mit Recht verweigern.
2. Die Wissenschaft kann, wenn überhaupt, neuen sozialen Trends nur langsam folgen, weil sich diese viel zu schnell entwickeln, und die Forschung zumeist um viele Jahre, wenn nicht gar um Jahrzehnte nachhinkt. Den Soziologen fehlt daher das Material, während die Psychologen noch viel zu oft an den Grundsätzen bürgerlicher Ehen des 19. Jahrhunderts festhalten.
Als sehr positiv sehe ich beispielsweise im Artikel von Wikipedia, dass der Kostenaspekt einer Fernbeziehung angesprochen wird – da ist sehr selten der Fall.
Was die Wissenschaftlichkeit der Aussagen betrifft: Paar- und Eheberater haben viele Male darauf hingewiesen, dass es keine absolut verlässlichen Konstellationen für eine funktionierende Paarbeziehung gibt. Was beforscht wird, greift viel zu kurz: Paare lernen sich aus der Ferne kennen und verblieben dort, andere wachsen langsam auch örtlich zusammen und das Wichtigste daran ist dies: Es ist ein langer, manchmal wechselvoller Prozess, der sich „wissenschaftlich“ gar nicht erfassen lässt. Was der Wissenschaftler von „Fernbeziehungen“ zu sehen bekommt, ist qualitativ wie quantitativ nur die Oberfläche. Fernbeziehungen werden heute über einige Hundert, aber auch über einige Tausend Kilometer geschlossen, sie machen an den Grenzen des Heimatlandes nicht halt und sie leben in babylonischer Sprachvielfalt: Er kann Ungar sein, sie Dänin, und die gemeinsame Sprache kann Deutsch sein – oder sie kann Ungarin sein und er Deutscher, und die gemeinsame Sprache ist Englisch. Für Beziehungen dieser Art sind die angeblichen „psychologischen“ Faktoren Kinkerlitzchen.
Was eine Fernbeziehung ist und wie man in ihr leben kann, muss erprobt werden – und zwar muss dies jedes Paar für sich selbst feststellen. Wenn man Neuland betritt (nur nebenbei: welche Beziehung ist eigentlich kein „Neuland“?) braucht man auch den nötigen Pioniergeist, und für die Fernbeziehung braucht man eben eine besondere Art von Pionieren, die auch mit dem Bau von Brücken über weite Flüsse und Schluchten zurechtkommen.
In meinem Artikel „Beziehung ist das, was man daraus macht“ für die Liebeszeitung setze ich mich kritisch mit den bürgerlich-konservativen Vorstellungen der Berater auseinander und rate sehr dazu, Fernbeziehungen zu erproben.