Frühlingsgefühle – alles falsch belichtet?
Ich wollte ja eigentlich gar nicht mehr über den Frühling schreiben, weil er ja nun da ist: Ich meine, wer schreibt schon über Geld, wenn er welches hat oder über Sex, wenn er jede Nacht Lustschrei ablässt?
Allerdings schreibe ich mit Vergnügen, dass die Wissenschaft festgestellt hat, dass sie überhaupt nicht in der Lage ist, sicher festzustellen, worauf der frühlingshafte Rausch beruht, der uns nach Liebe lechzen lässt. Ich bin ja immer froh, wenn die Marktschreier der Wissenschaft die Liebe den Liebenden überlassen – und kann also zufrieden sein. Mich belustigt allerdings, wie die bisherigen „wissenschaftlichen“ Erkenntnisse nun durch das Gegenteil ersetzt werden und frage mich: Waren wir in den Jahren, als sie noch galten (nicht sehr lange her, fürchte ich) eigentlich alle nackte Wilde?
Schuld am Verlust der wissenschaftlichen Erklärungen ist angeblich die Zivilisation, wie wir erfahren. Genau genommen sei es das Kunstlicht, werden wir jetzt „wissenschaftlich“ beschieden. Es verhindere, dass unser Hormonspiegel, genau genommen der des Melatonins, im Frühling Bocksprünge veranstalte. Flotte Sprüche begleiten munter die neue Erkenntnis: Aus Freiburg hören wir, dass so etwas wie Frühlingsgefühle „höchstens noch bei den Eskimos“ stattfinden würde, und das Wunderwerk Wikipedia verklickert uns, dass es wohl bei den „Naturvölkern“ noch eine Rolle spiele, aber eben nicht bei uns. Wir sind eben falsch belichtet, oder besser gesagt: längst überbelichtet.
Doch da Wissenschaftler auch dann noch überheblich sind, wenn sie nichts wissen, wissen sie jetzt verbindlich, dass unsere Frühlingsgefühle alle Einbildung sind, zumal es „richtige Dunkelheit und Kälte“ gar nicht mehr gäbe – klar, es gibt nur noch falsche Dunkelheit und falsche Kälte, und die Menschen, die Winterdepressionen erleiden, wissen dies leider nicht. Vielleicht erzählen Sie so etwas mal einem Finnen, bei dem die Sonne gegen 10 Uhr aufgeht und gegen 15 Uhr untergeht?
Meine sehr geschätzte Kollegin Sigrid Neudecker hat übrigens bei der wissenschaftlichen Betrachtung der Frühlingsgefühle auch ein Haar in der Suppe der Geburtenstatistik gefunden: Wenn im Wonnemonat Mai die meisten Kinder gezeugt würden, dann müssten doch die Geburten … na, das können Sie selber ausrechnen. Wie war doch gleich Ihr Geburtsmonat? Und gab es da schon elektrisches Licht?
Aber zurück zum Zweifel: Zwar sind die meisten Kinder heute Sommerkinder und könnend daher kaum im Frühjahr gezeugt worden sein, jedoch gibt es keine Statistiken über ungewollte Schwangerschaften oder gar Abtreibungen. Sollte also doch etwas dran sein an den Frühlingsgefühlen?
Wissen Sie was? Ich kann auf wissenschaftliche Erklärungen für die Frühjahrslust und die Frühjahrsfreude wirklich verzichten – ich genieße einfach, dass die Luft anders riecht, die Tage gegenüber den Nächten wieder länger werden und der Lichteinfall nicht aus so viel Kunstlicht besteht, und sehe auch, dass die Vögel wieder vögeln, die Liebenden sich wieder lieben, und die Frauenaugen wieder glänzen, wenn sie einen schicken Mann sehen. Und vor allem sehe ich wieder nackte Beine, Bäuche, Rücken und Brüste bei den Damen, die in unseren Parks und Einkaufsparadiesen flanieren.
Falls Sie dieser Tage mal flirten wollen: Reden Sie mit einem anderen Menschen über den Frühling – auch wenn es keine wissenschaftliche Erklärung dafür gibt, wieso durch diesen blöden Small Talk die Hormone in Wallungen kommen – es funktioniert eben manchmal, auch wenn es gar nicht die Hormone waren, sondern nur die Sehnsüchte, die dabei freigesetzt wurden.
Foto © 2010 by sehpferd, Lörrach und Budapest