Gegenbewegung – Wahrheiten statt Kampagnen
Das Internet ist voller Rechthaber, Fanatiker und Moralisten. Längst nutzen diese Menschen nicht mehr nur die anonymen Neo-Leserbriefe, heute Kommentare genannt. Nein, sie haben mit Twitter und Facebook eine neue Parallelwelt geschaffen, in der sie recht haben und alle anderen Unrecht. Heute nützt ein einziger sogenannter Hashtag, wenn er denn genügend populär ist, Stürme der Entrüstung auszulösen – Stürme freilich, die ebenso schnell wieder abflauen wie sie gekommen sind. Im Netz kann jeder jeden Scheiß erzählen, vertreten und verteidigen. Und er wird Erfolg haben, solange ihm genügend Menschen hinterherlaufen und mitgröhlen.
Was wir brauchen, ist eine Gegenbewegung: Menschen, die sich der Wahrheit verpflichtet fühlen und nicht der Masse, dem Mainstream oder gar dem Tranquilizer Neuzeit, der „sozialen Korrektheit“. Offen, kritisch, kommunikativ und kompromissbereit – das wäre eine Formel, die greifen könnte.
Was die Wahrheit ist, können wir bekanntlich alleine nicht feststellen. Wir haben Annahmen, erwägen Möglichkeiten, unterstellen Wahrscheinlichkeiten oder halten den Zufall für die Wahrheit. Doch damit nicht genug: Wir bestätigen einander viel zu häufig auch Vor- und Fehlurteile. Beispielsweise, wenn Frauen einander dabei unterstützen, dass Astronomie und andere Formen des Aberglaubens einen Wahrheitsgehalt hätten.
Wir verkennen dabei, dass Gruppen von Gläubigen, Sektierern oder Fans sich durch die gegenseitige Bestätigung von Vermutungen in kürzester Zeit „Wahrheiten“ erschaffen können. Fre8lkich handelt es sich nicht um Fakten, sondern um „Wahrheiten“, die nur dort gelten, wo geglaubt oder fanatisiert wird.
Doch falls eine Wahrheit auf den Prüfstand soll, müssen Beweise für die Annahmen vorgelegt werden und Zweifel an den Thesen müssen erlaubt sein. Es reicht nicht, zu „glauben“ dass etwas so oder so ist, und es reicht auch nicht, dass viele das Gleiche glauben. Ja, es reicht nicht einmal, dass viele uns das Gleiche bestätigen. Die Kühnheit bei der Wahrheitsfindung liegt vielmehr darin, das angebliche „Wahre“ gezielt zu bezweifeln.
Wenn wir das heutige Internet betrachten, dann bestätigt sich mit jedem Tag der satirische Satz „Esst mehr Scheiße – Millionen Fliegen können nicht irren.“ Wir müssen uns wahrhaftig das Dummgelaber von „Schwarmintelligenz“ anhören, weil alle auf den gleichen Haufen scheißen. Als Männer müssen wir uns heutzutage minderwertig fühlen, wenn eine geschickte Werbefrau einen Hashtag wie „#aufschrei“ die Welt setzt, der sie berühmt machen soll – und alle fallen darauf herein, sogar das ZDF und die Juroren für den Grimme-Preis. Letzteres wirf ein neues Licht auf den angeblich „seriösen“ Journalismus. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Es gibt sie nicht, die „Lügenpresse“, und die Fernsehanstalten verbreiten kein „Lügenfernsehen“. Vielmehr erweisen sich viele Journalisten, auch seriöse, als überfordert von der Relevanz der „Wahrheiten“, die im Internet von geschickten Frauen und Männern lanciert werden. Doch welcher Journalist gesteht schon ein, von seinen Informationsquellen überfordert zu sein?
Manche Menschen beschmieren Hauswände und Klotüren mit Parolen, und mir scheint, dass manche Internetaktvisiten kaum mehr tun. Hören wir doch bitte auf damit, diesen Klotürenbeschmierern zu glauben. Leisten wir Widerstand, wenn die Massen zusammenlaufen, um zu hetzen und zu diffamieren.
Es ist richtig, um die Wahrheit zu ringen – aber das gelingt immer weniger, je mehr alles zur „Kampagne“ wird. Wenn Sie und ich uns nicht selbst bemühen, Wahrheit zu schöpfen und die gefundenen Wahrheiten zu verbreiten – wer, bitte schön, soll es dann tun?
Ich bin Gebhard Roese, freier Schriftsteller und Journalist. Und ich fühle mich verpflichtet, die Wirklichkeit transparenter zu machen.